Geschichtspolitik – Geschichte im Dienst der Politik?

Zum polnischen Streit über Geschichte und Gedächtnis

Es sei darauf hingewiesen, dass der folgende Vortrag, wie alle auf der Konferenz „Was ist Heimat“ am 18./19.11.2006 im Collegium Polonicum zu einem Zeitpunkt gehalten wurden, als die PIS-Regierungskoalition noch am Ruder war. Die Abwahl dieser Regierung erfolgte am 23.10.2007.

Erinnerung und Interpretation der Vergangenheit gehören zu den elementaren Funktionen einer jeden Gesellschaft und einer jeden Nation seit Beginn ihrer Existenz. Unabhängig von den gesellschaftlich-politischen Bedingungen war diese Sphäre niemals ausschließlich professionellen Historikern vorbehalten. Bild und Vision von Geschichte, Geschichtsbewusstsein waren stets ein wichtiges Element der Politik, von weltlicher als auch geistlicher Macht, sowie von Klassen-, gesellschaftlicher und nationaler Interessen. Die Geschichte hat immer zu irgendetwas bzw. irgendjemandem gedient. Als Gegenstand des öffentlichen Interesses weckt die Vergangenheit immer noch heiße Emotionen. Die Intensität, mit der in Polen zu Anfang des 21. Jahrhunderts eine Debatte über Geschichte im Dienste der Politik entflammt, ist es wert, wissenschaftlich reflektiert zu werden.

Das wachsende Interesse an der Vergangenheit und die damit verbundene Debatte hat vielfältige Ursachen. Die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert führte zu Auseinandersetzungen zwischen den Generationen, zwischen Siegern und Verlierern des Kalten Krieges, zwischen den in die totalitären Systeme Verstrickten und ihrer Opposition. Die demokratische Wende hat in Ostmitteleuropa eine Schleuse geöffnet, durch die Erfahrungen sowohl aus den Zeiten vor 1945 als auch danach an die Oberfläche kamen. Mit dem Fall des bipolaren Europa brach auch ein bestimmtes Bild der Vergangenheit zusammen. Die Pluralisierung der Gesellschaft hat eine Vielfalt von Geschichtsbildern zutage gefördert. Die großen Metamorphosen der politischen Systeme im Zentrum des Alten Kontinents, ethnische Konflikte, das Auseinanderfallen alter sowie die Schaffung neuer Nationalstaaten am Ende des 20. Jahrhunderts verhalfen der Geschichte zu erstrangiger politischer Bedeutung.

Nach dem Sturz des Kommunismus nahm man eine eilige Kanonisierung der einen und eine Entthronung anderer Helden vor. Im Jahr 2005, das für Polen wie für andere europäische Völker bedeutende Jahrestage mit sich brachte, wurden Rituale und Themen, die mit dem Erbe der beiden Diktaturen, mit der Frage von Verantwortung und Verrat, Amnestie und Amnesie, mit der Rehabilitierung der Opfer und Bestrafung der Schuldigen zusammenhingen, zu wichtigen öffentlichen Ereignissen erklärt.

Zugleich wuchs das Bedürfnis nach neuen Gründungsmythen, nach der Legitimation der Verbundenheit mit der Nation, der nationalen Identität unter den neuen demokratischen Bedingungen. Die von der Zensur befreiten Gesellschaften revidierten die Geschichte. Die Ablehnung des bisherigen, uniformierten Geschichtsbildes, die Vielfalt an Angeboten, Lehrbüchern, Erinnerungsliteratur, vor allem aber das massenhafte Interesse an Geschichte sowie die moderne mediale Vermittlung von Geschichtsbildern fördert nicht nur einen breiten Gedankenaustausch, sondern bringt auch Spannungen und Angstgefühle mit sich. Heftige gesellschaftliche Veränderungen in der Globalisierungsepoche wecken Zukunftsängste, die mit einem Gefühl von Vergangenheitsverlust korrespondieren. In dieser Situation erfüllt das Zelebrieren von Jahrestagen und Nationalfeiertagen eine Kompensationsfunktion. Für die neuen Mitglieder der Europäischen Union, auch für Polen, wurden Nationalstolz und neuer Patriotismus zu wichtigen Elementen des Gleichgewichts in der neuen, noch wenig bekannten Welt.

Der Begriff Geschichtspolitik wurde in den polnischen Diskurs aus der deutschen Publizistik übernommen. Er tritt als Medienslogan, als Schlagwort, als politische Forderung oder als Argument in den politisch-historischen Kontroversen auf und ist eher mit Emotionen als mit einem Erkenntnisinteresse behaftet. Aufgrund des Missbrauchs der Geschichte seitens Diktaturen, sowohl der nationalsozialistischen als auch der kommunistischen, erweckt dieser Begriff vor allem negative Assoziationen. Es ist schwer, sich heute mit der Tatsache abzufinden, dass das historische Gedächtnis im demokratischen Staat und in der Massengesellschaft vielstimmig, dynamisch, beschleunigt und kommerzialisiert ist. Auf brennende politische Probleme der Gegenwart sucht man Antworten in der Vergangenheit. Die Geschichtspolitik nach 1989 hat überall ihr janusköpfiges Antlitz enthüllt. Dort, wo sich alles überlagert – das Bedürfnis nach echtem Wissen über das Wesen des totalitären Systems, die Suche nach Tätern und Opfern, Wiedergutmachung, Moral – steigt die Bedeutung der politischen Sensibilität, und Distanz ist unentbehrlich.

Determinanten und Charakteristika der polnischen Auseinandersetzung

Das Thema Geschichtspolitik taucht seit einigen Jahren in den polnischen Medien auf, ist Gegenstand zahlreicher Konferenzen und politischer Appelle und Bestandteil der gesamten Wandlungen der politischen Kultur im postkommunistischen Europa nach 1989. Der Ausbruch dieser Debatte ist eine Reaktion auf die Renaissance der historischen Erinnerung in Deutschland, auf das offensichtlich ungenügende Wissen über die neueste Geschichte Polens in Westeuropa und zugleich eine Antwort auf die Manipulation und Arroganz der russischen politischen Führer. Diese Tatsache bestimmt den Charakter dieser Debatte von Anfang an. Solche Abwehrhaltungen erschweren die Bestimmung positiver Ziele, sind geprägt durch Augenblicksbedürfnisse, mobilisieren Emotionen und kommen in blinden Rundumschlägen zum Ausdruck, was Rang und Seriosität der Debatte mindert.

Obwohl das Engagement für die Diskussion über Geschichtspolitik teilweise dem Bedürfnis folgt, ein Modell der Staatstätigkeit in diesem Bereich zu definieren, also positive Voraussetzungen zu schaffen, ist der Inhalt dieser Debatte in entscheidendem Maße negativ bestimmt. Grundlegendes Charakteristikum und polnisches Spezifikum dieser Debatte sind Demontage, Negation und Kampf. Denn die Losung der Geschichtspolitik ist für die heute regierenden politischen Kräfte und deren intellektuelle Unterstützer zu einem wichtigen Argument des Streits um die sogenannte Vierte Republik geworden. Diese Losung richtet sich gegen alle Regierungen nach 1989 und gegen die Eliten, die an der Transformation Polens beteiligt waren.

Schuld und Verantwortung

Ein integrales Element jedes Umbruchs ist der Versuch, die alte Geschichtsinterpretation zu negieren und lächerlich zu machen sowie die alten Eliten zu denunzieren. Obwohl gerade die Diktaturen aller Art diesen Mechanismus am besten beherrschen, stellt sich heraus, dass die politischen Entscheidungsträger, die in der öffentlichen Meinung den Ton angeben, ähnliche Techniken und eine ähnliche Propagandasprache benutzen. Mangelnde Reflexion über die Inhalte dessen, was als Geschichtspolitik bezeichnet wird, hat bewirkt, dass sich dieser Terminus im Verlauf des Wahlkampfes und der öffentlichen Debatte als Quelle eines unerschöpflichen Arsenals sich widersprechender Argumente und Scheinrezepte für die Heilung des Landes erwies. Dieser Begriff umfasste Fakten und Phänomene sowohl der Innenpolitik (u. a. Bildung, Erziehung zum Patriotismus, Lustration, Entkommunisierung, Kombattantenprobleme, nationale Identität, Umgang mit Minderheiten) als auch der Außenpolitik (Formen und Umfang der Selbstdarstellung Polens in der Welt, das Verhältnis zu den Nachbarn und ihrem historischen Erbe, Entschädigungen).

Zu Beginn der Debatte wurde die von Grund auf falsche These aufgestellt, alle bisherigen Regierungen und Eliten hätten die Vergangenheit radikal abgelehnt und die Tradition vernachlässigt. In ihrem Vorwort zu den Konferenzmaterialien zum Thema Geschichtspolitik formulierten Dariusz Gawin, stellvertretender Direktor des Warschauer-Aufstands-Museums und Paweł Kowal, Historiker und Koautor des Museumskonzepts, den Vorwurf, „die Politiker hätten sich hauptsächlich auf Wirtschaftsdaten und komplizierte Transformationsprozesse konzentriert. Unter diesen Bedingungen sollte die Politik zu einer Kunst von Technokraten werden. Die Sphäre der Symbole und der Identität, die Debatten über Werte und Wertvorstellungen habe man als Ersatzthemen bezeichnet, als rhetorische Losungen von Demagogen und Populisten.“ (1)

Beinahe jede Publikation zur affirmativen Bestätigung der neuen Geschichtspolitik wiederholt diese Kritik, die meist zu der Feststellung führt, dass Patriotismus, Stolz auf die eigene Geschichte und die Verbundenheit mit den vorherigen Generationen bisher als Anachronismus betrachtet worden seien, als ein Hindernis für die modern begriffene Europäisierung und Demokratisierung der Gesellschaft. Die rhetorische Grundannahme der Initiatoren der Geschichtspolitik lautet: „Während Ihr vor der Geschichte geflüchtet seid, kehren wir triumphierend zu ihr zurück; Ihr habt euch für Europa entschieden, wir für die Nation und den Patriotismus; Ihr für den Liberalismus, und damit für Konsumismus und Ablehnung von Werten, wir für die Gemeinschaft.“ Diese Aussage lässt sich jedoch logisch überhaupt nicht begründen.

Die Idee der neuen Geschichtspolitik findet leicht den Beifall der im weitesten Sinne rechten Kreise, allein schon aus dem Grunde, weil der Hauptgegenstand des Angriffs ihrer Verfechter die vage umrissene Linke ist. In der Praxis sind damit die postkommunistischen und die Post-Solidarność-Kräfte sowie die Liberalen gemeint. „Die Postkommunisten haben das Lied vom Ende der Geschichte angestimmt“, schreibt Grzegorz Górny und unterstellt damit, dass es jenen mit Hilfe der Post-Solidarność-Kreise gelungen sei, „einen großen Teil der Gesellschaft davon zu überzeugen, dass man die Geschichte den Historikern überlassen und sie nicht mit öffentlichen Aktivitäten vermischen sollte“ (2)

Prof. Andrzej Nowak, Chefredakteur der historischen Zeitschrift Arkana, einer der Teilnehmer der am 30. März 2006 im Institut zum Nationalen Gedenken (IPN) organisierten Konferenz zum Thema „Polnisches historisches Gedächtnis“, gehört zu der Gruppe von Radikalen, die sich beim Aufspüren jener überbieten, die des historischen Eskapismus geziehen werden. Im Kampf um die Rehabilitierung der romantischen Tradition setzt der Autor die Propaganda der Dritten Polnischen Republik der Propaganda der Volksrepublik Polen gleich. Beide hätten „dem historischen Gedächtnis“ Unrecht zugefügt, indem sie es ad acta legten. Im Namen der gesellschaftlichen und nationalen Gerechtigkeit fordert Nowak, die wahren Helden aufzuzeigen, „deren Platz siebzig Jahre lang auf dem Müllhaufen der Geschichte war, wo man sie auch in den letzten fünfzehn Jahren zu halten versuchte“. Die Dritte Republik stellt für ihn nur eine Fortsetzung jener Denkschule dar, die Nihilismus propagierte und den Polen das Gefühl des Nationalstolzes raubte. Der Autor sieht sich also als Sprecher der Gegenpropaganda. Ihr Ziel soll darin bestehen, der romantischen Tradition im Namen einer nicht näher präzisierten Zukunftsvision zum Wohle des Staates ihre Würde zurückzugeben, des Staates als „einer Gemeinschaft von Staatsbürgern, die in dieser Gemeinschaft bleiben und sie nicht beschämt verlassen wollen“ (3).

Zum Chor der Kritiker der Dritten Republik, des dicken Striches und des runden Tisches als Verursacher der Schwächung aller Gemeinschaftlichkeit, gehört Zdzisław Krasnodębski, Sozialwissenschaftler an der Universität Bremen und Professor an der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität in Warschau. Er geht davon aus, dass „die Ideologie des polnischen Liberalismus und der Utopie einer offenen Gesellschaft (…) das Bedürfnis nach kollektivem Gedächtnis und staatlicher Geschichtspolitik negiert“ (4).

Jarosław Kaczyński, gegenwärtiger [inzwischen ehemaliger] Premierminister und Vorsitzender von Recht und Gerechtigkeit (PiS) behauptete vor der gewonnenen Wahl vom 25. September 2005, seine politischen Gegner seien schuld an der Negierung des historischen Gedächtnisses. Er verbarg seine Absichten auch nicht. Die Brandmarkung „übertriebener Sittentoleranz“ des Post-Solidarność-Liberalismus diente ihm als Ausgangspunkt für die Durchsetzung einer „moralischen Revolution“. Es sind die an die Macht gelangten neuen politischen Kräfte, die den Staat erwärmen und ihn mit einer Gemeinschaft aus Vision und historischem Gedächtnis umgeben sollen.

Die Geschichte als Opfer der Dritten Republik wird zum Thema der höchsten polnischen Amtsträger. Kazimierz Michał Ujazdowski, bereits in den Jahren 2000-2001 sowie in der gegenwärtigen Regierung von Jarosław Kaczyński Minister für Kultur und Nationales Erbe, Mitbegründer der PiS, schreibt folgendes: „Man könnte den Eindruck haben, dass ein Teil der liberalen und linken Eliten uns vor die unangenehme Alternative stellt: entweder Größenwahn oder Amnesie. Die Pflege historischer Traditionen erweist sich als unmodern und schädlich für die Entwicklung der Gesellschaft.“ (5)

Dabei darf die Beschäftigung mit der Vergangenheit in keinem Staat zur politischen Priorität werden. Andererseits kann es sich jedoch kein Staat erlauben, wichtige Nationalfeiertage, Jahrestage, Symbole und Rituale zu ignorieren. Die für die Demokratisierung und Modernisierung Polens nach der Wende 1989/1990 verantwortlichen politischen Eliten waren sich dessen vollkommen bewusst. Für ein Land, das aus einem tiefen Kollaps herauskam, war die Vergangenheit eine wichtige, jedoch keinesfalls die wichtigste Aufgabe. Die Schöpfer des demokratischen Polen mussten sich nämlich mit dem Erbe sowohl der inneren als auch der äußeren Gespenster der Vergangenheit auseinandersetzen, im gesamtstaatlichen wie im regionalen Rahmen. Die Dritte Republik hatte es seit ihrer Geburtsstunde mit der symbolischen Sphäre eines Staates zu tun, der seine Souveränität wiedererlangt hatte. Der Bruch mit der Vergangenheit der Volksrepublik Polen verlangte von der ersten Regierung eine Anknüpfung an die besten historischen Traditionen des Landes: der Aufbauprozess der Grundlagen eines neuen historischen Bewusstseins umfasste die Änderung des Staatsnamens und Staatswappens, die Übergabe der Machtinsignien durch den letzten Exilpräsidenten, Ryszard Kaczorowski, an Lech Wałęsa am 22. Dezember 1990, die gesamte Reorganisation staatlicher Institutionen bis zur Verkündung einer neuen Verfassung der Republik.

Geschichtspolitik war ohne überflüssige Deklarationen und verbale Aushängeschilder zum Element des Alltags geworden. Zum Ausdruck kam das u.a. darin, dass der Feiertag des 22. Juli abgeschafft wurde und stattdessen die Feiertage des 3. Mai und 11. November ihren entsprechenden Rang zurückerhielten, dass die Jahrestage der wichtigsten Ereignisse, die mit der Oppositionsbewegung in der Volksrepublik Polen zusammen hingen (u.a. die Entstehung der Solidarność) feierlich begangen wurden. Es gab einen langen Prozess von Umbenennungen der Straßen und der Schulpatronate, die Denkmallandschaft im ganzen Land und die Politik der staatlichen Auszeichnungen wurde geändert, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden rehabilitiert (Wiederaufnahme von Prozessen, Entschädigungen, moralische Wiedergutmachung), den Funktionären des Sicherheitsdienstes (UB) wurden ihre Veteranen-Privilegien entzogen und im Jahre 2000 das Institut zum Nationalen Gedenken (IPN) gegründet.

Die erste Regierung hatte epochale Maßnahmen im Bereich der Normalisierung der Beziehungen nicht nur zu den polnischen Nachbarn ergriffen. Beide Verträge mit der Bundesrepublik Deutschland, sowohl der Grenzvertrag aus dem Jahr 1990 als auch der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991, waren Meilensteine auf dem Weg zur Bewältigung des tragischen Erbes der Vergangenheit. Das Verbrechen von Katyń wurde zum Gegenstand zahlreicher Gespräche und Aktivitäten der Eliten im Rahmen der Beziehungen zu Russland. In den neunziger Jahren bemühte man sich auch um eine neue Beschäftigung mit der Vergangenheit in den Beziehungen zur Ukraine und zu Litauen. Es wurden Institutionen und wissenschaftliche Einrichtungen, Stiftungen und kulturelle gesellschaftliche Organisationen ins Leben gerufen, deren wichtigste Aufgabe in der Pflege des historischen Gedächtnisses bestand. Die Abschaffung der Zensur weckte eine Begeisterung, die ihren Ausdruck in einem enormen Interesse für Geschichte fand. Ihr Ergebnis ist nicht nur eine unüberschaubare Menge an wissenschaftlicher Literatur, die den bisherigen Tabuthemen, dem Ausfüllen weißer Flecke, der Verifizierung von Lügen und falschen Thesen gewidmet war. Die Wiederherstellung der Nähe zwischen den Bürgern und ihrer Geschichte fand seinen Ausdruck darin, dass vielen Orten und Regionen Geschichte und Gedächtnis in ihrer ganzen multikulturellen Dimension wiedergegeben wurden. Die großen und kleinen Städte erhielten ihre vielfarbige Geschichte zurück. Die Renaissance lokaler Traditionen in Ermland und Masuren, Schlesien und Kaschubien bringt die Rückkehr alter Feste, die Pflege der Dialekte, der Literatur und somit eine Stärkung der zwischenmenschlichen Bindungen (6).

Zwei Patriotismen

Jedes Volk hat das natürliche Bedürfnis, auf das eigene Vaterland stolz zu sein. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Polen nicht von anderen Ländern, nicht nur europäischen. Die Eigenschaft jedoch, die viele Polen von anderen unterscheidet, und das bestätigen sowohl die Geschichtspolitikdebatte als auch eine Reihe internationaler empirischer Untersuchungen, ist die Überzeugung, dass der Tribut des Opfers und des Martyriums, den wir dem Altar der Geschichte gezollt haben, sowie die Verdienste im Kampf gegen Nationalsozialismus und Kommunismus uns eine moralische Überlegenheit verleihen. Das bringt weitreichende Konsequenzen mit sich.

Die von der PiS im Parlaments- und Präsidentschaftswahlkampf forcierte Aufteilung in das „liberale“ und das „solidarische“ Polen war nicht nur billiger Wahltrick. Der Gesellschaft wurde weisgemacht, dass man sich – wenn man für diese Partei sei – für die Wärme der Gemeinschaft und das Wohl der Allgemeinheit entscheide, dagegen bedeute das Ausharren bei der Bürgerplattform und den Gruppierungen des Zentrums eine Entscheidung für den kalten Kapitalismus, den Egoismus des Individuums und die moderne Demoralisierung. Die heutigen Aussagen der Apologeten der neuen Geschichtspolitik knüpfen unkritisch an diese Aufteilung an, wobei sie den politischen Gegnern zugleich unterstellen, bewusst den Patriotismus und die gemeinschaftliche nationale Identität geschwächt zu haben.

Die Aussagen mancher führender Politiker darüber, welche Geschichtspolitik Polen brauche, enthielten eine Kritik der bisherigen patriotischen Erziehung. Die Kreativität des Lehrers, die Vielfalt an Lehrprogrammen und Schulinitiativen, die Freiheit bei der Auswahl von Lehrbüchern werden heute als eine ernsthafte Gefährdung im Prozess der historischen Erziehung betrachtet. Die Forderung nach Vereinheitlichung des Inhaltes einer patriotischen Erziehung, die Ideen von Bildungsminister Roman Giertych, u. a. „Patriotismuserziehung“ als eigenständiges Unterrichtsfach einzuführen und die Geschichte Polens im Unterricht von der Weltgeschichte abzutrennen, angesichts einer ohnehin verschwindend geringen Anzahl von Stunden, die der Geschichte in der Schule gewidmet werden, müssen verständliche Besorgnis erwecken. Um so mehr, als die Hauptvorwürfe der Politikhistoriker oder Geschichtspolitiker auf Methode und Grundsätze der Geschichtswissenschaft zielen. Das, was ihre Natur und eine Bedingung sine qua non der Wissenschaft darstellt – das kritische Herangehen –, wird als grundlegende Schwäche der bisherigen Forschung betrachtet. Was für jeden Forscher verbindlich ist, das Bestreben Ursachen und Umstände von Ereignissen zu untersuchen, Mythen zu entlarven und das Bild der Geschichte zu verifizieren wurde an den Pranger der Kritik gestellt. Die Patriotismuslektion, die die Verfechter der neuen Geschichtspolitik erteilen wollen, basiert auf der Verteidigung von Geschichtsmythen und der Verfechtung einer selektiven, einen, einzig richtigen Wahrheit.

Die polnischen historischen Erfahrungen sollen auf ein affirmatives Gedächtnis reduziert werden, das nur ein Motiv kennt, das freiheitliche. Die Idee der Freiheit nimmt „den zentralen Platz in der Geschichte der polnischen politischen Gemeinschaft ein und stellt unseren größten Beitrag zum europäischen Erbe dar, daher soll sie auch das Fundament des zeitgenössischen staatsbürgerlichen Patriotismus bilden.“(7) Die Geschichte Polens reduziert sich jedoch nicht ausschließlich auf die Union mit Litauen, die Union von Lublin, die Erfahrungen der Teilungen, die Zurückschlagung des bolschewistischen Angriffs im Jahre 1920, die Heimatarmee, den Warschauer Aufstand oder mutige Handlungen der polnischen Kirche und der Solidarność. Man könnte fragen, ob Beispiele von fehlender Toleranz, Pogrome, die an der jüdischen und deutschen Bevölkerung begangen wurden und Beispiele von Kollaboration und Denunziation – im Falle von verdienten Kirchenvertretern besonders schmerzhaft – das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft destabilisieren und patriotische Gefühle schwächen? Wer garantiert, dass das Verschweigen der dunklen Seiten der polnischen – aus dem internationalen Kontext herausgelösten – Geschichte, und die einseitige Präsentation polnischen Ruhmes die junge, weltoffene Generation davon überzeugen wird, eine solche Variante des Patriotismus zu akzeptieren?

Weder polnische noch internationale Untersuchungen bestätigen die alarmistische Diagnose vom Zustand der Identität und vom Verschwinden patriotischer Gefühle, wie sie von Politikern der regierenden Parteien forciert vertreten wird. Obwohl die polnische Verfassung eine staatsbürgerliche Definition der Nation beinhaltet, vertreten die Polen ein ethnisches Verständnis der nationalen Zugehörigkeit in seiner traditionellen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bedeutung. Es dominiert die nationale Selbstkreation. Aus Untersuchungen ergibt sich das Bild eines Polen, der seinen Stolz nicht aus den zivilisatorischen Leistungen und dem demokratischen Wandel schöpft, sondern aus den historischen Erfahrungen Polens als Opfer und Held von Befreiungskämpfen. Was uns unterscheidet, ist unsere narzisstische Natur, das Gefühl, Opfer anderer Völker, kommunistischer Politiker und von Globalisten zu sein. Für unseren besonderen Beitrag zum nicht näher präzisierten Wohle der Menschheit erwarten wir moralische und materielle Wiedergutmachung. Unsere Leiden und das erfahrene Unrecht sind eine Folge der Treue gegenüber bestimmten Traditionen. Der Tribut des Opfers und Martyriums, den wir dem Altar der Geschichte zollten, wie auch die Verdienste im Kampf gegen Nationalsozialismus und Kommunismus verleihen uns eine moralische Überlegenheit.

Forschungsergebnisse zeigen auch, dass das forcierte Modell der Geschichtspolitik, das eine kritische Haltung gegenüber der Geschichte ausschließt und den Patriotismus auf der Organisation des Gedächtnisses im Interesse der einen, einzig richtigen politischen Option aufbaut, die Gestaltung einer demokratischen politischen Kultur erschwert. Die Kreation eines affirmativen Patriotismus berücksichtigt nicht, dass es neben den Kreisen, die der Tradition der Heimatarmee, des Warschauer Aufstands und der Solidarność gedenken, noch viele andere Gedächtnisgemeinschaften gibt. Sie ignoriert die Tatsache, dass Polen die wenigsten Nichtregierungsorganisationen in ganz Europa hat, die staatsbürgerliches Engagement freisetzen und ein wichtiger Initiator von Gruppenbindungen sind. Dabei wird auch die elementare Tatsache nicht berücksichtigt, dass objektive Veränderungsprozesse im Selbstbewusstsein und in der Mentalität, insbesondere der jungen Generation, stattfinden. Die Öffnung Polens, die Möglichkeiten zu reisen und sich mit Hilfe neuester sozialer Kommunikationstechniken zu verständigen bewirken, dass die jungen Polen sich immer stärker mit anderen Gleichaltrigen identifizieren. Mit dem Fall der bipolaren Welt haben sich nämlich die Kriterien der Selbstbeurteilung verändert. Polen ist ein integraler Bestandteil der Welt. Patriotische Haltungen sind nicht untergegangen, sie haben nur ihren Inhalt und ihre Qualität verändert. Der Patriotismus ist pluralistisch geworden.

Wir und sie. Die Geschichtspolitik gegenüber der Außenwelt.

Als Sejmmarschall Marek Jurek auf das historische Bewusstsein als elementares Bindeglied der Nation und des Gefühls der Staatlichkeit hinwies, brachte er die Ansichten jener Teile der meinungsbildenden Eliten zum Ausdruck, die das historische Gedächtnis der polnischen Gesellschaft in Opposition zum Gedächtnis von Deutschen und Russen sehen. In dieser Hinsicht hat die polnische Geschichtspolitik eine geopolitische Dimension, indem sie sich zwischen den Geschichtspolitiken unserer beiden großen Nachbarn situiert. Die Aufrechterhaltung eines Gefühls der Bedrohung liegt im Interesse jener politischen Kräfte, die beweisen wollen, dass die bisherige Außenpolitik eine Folge von Schwäche und Unterwürfigkeit gegenüber fremden Großmächten gewesen sei. Das Gebot einer Verteidigungshaltung, des Reagierens auf bestimmte Handlungen und die Manipulation des historischen Gedächtnisses in Deutschland und Russland bewirken, dass die so begriffene Geschichtspolitik einen konfrontativen Charakter annimmt.

Die Auseinandersetzungen um die polnische Täterschaft beim Judenpogrom in Jedwabne haben eine tiefgehende Erschütterung hervorgerufen und ein zusätzliches Argument geliefert, um das Polentum und Polens guten Namen nach Außen hin zu verteidigen. Im Dienste dieser Verteidigung, wie auch um die Vorwürfe deutscher Opfer von Zwangsaussiedlungen zurückzuweisen, wurde eine Argumentation herangezogen, die sich auf solche Kategorien wie Katholizismus, nationale Gemeinschaft, Solidarismus und Staatsräson stützte.

Eines der Hauptmotive der Propagierung der Geschichtspolitik nach außen waren die im äußeren Umfeld Polens ausgemachten Beispiele für Wissenslücken, die vor allem im Verwechseln des Aufstandes im Warschauer Getto mit dem Warschauer Aufstand und der Bezeichnung von Auschwitz als polnischem Konzentrationslager bestanden. Unterstützt wird das von einer begründeten Besorgnis über das verschwindend geringe Wissen der Deutschen über die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und die Geschichte der Besatzung auf polnischem Boden. Laut Jarosław Kaczyński haben wir es „mit einer massiven Desinformation über Polen und die Polen“(8) zu tun.

Einer der Bezugspunkte für die Ambitionen der polnischen Geschichtspolitik ist auch Europa. Die Diskussionen werden von folgender Überzeugung begleitet: „Wären wir nach 1989 ein bisschen weniger im Geiste einer übernationalen und postpolitischen Utopie ideologisiert gewesen, hätten wir heute in Europa eine andere Position.“(9) Der nach 1989 verzerrten Denkweise über den Platz Polens in Europa verdankten wir heute, wie Zdzisław Krasnodębski meint, unsere schwächliche Position in der Meinung Außenstehender: „Wenn ihr nach Europa wollt, sagte man uns, dann müsst ihr euch von eurer Nationalgeschichte lossagen – statt von Helden zu sprechen, gebt eure Schurkereien und Verbrechen zu. Gleichzeitig wurden auf überaus naive Weise Gesten für die Realität genommen. Mit wahrer Ernsthaftigkeit wurde zum Beispiel das Weimarer Dreieck behandelt – als ob wir tatsächlich gleichrangige Partner von Frankreich und Deutschland gewesen wären… Aus der Tatsache, dass wir in der EU sind, folgt überhaupt nicht, dass unterschiedliche nationale Interessen sowie die Notwendigkeit, die eigene Souveränität zu stärken, verschwunden sind.“(10)

Unsere Geschichtsdiplomatie soll eine Einbahnstraße sein. Niemand fragt nach dem Zustand polnischen Wissens über die Geschichte unserer Nachbarn. Der Vorschlag der Liga der Polnischen Familien, in Berlin ein Zentrum des polnischen Martyriums zu bauen, die europäischen Länder dazu zu bringen, sich polnische Fernsehserien und Geschichtsdokumentationen anzuschauen, die Verpflichtung der im Ausland lebenden Polen, ihr Wissen über die historischen Verdienste der Polen zu vertiefen, stellt eine Liste frommer Wünsche dar, hinter denen keinerlei durchdachtes, nachhaltiges geschichtspädagogisches Programm steckt. Sie kann schon aus dem Grunde nicht erfolgreich sein, weil sie von einer eigenartigen Mischung aus Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen begleitet wird. Im Exposé des polnischen Premierministers vom 10. Juli 2006 fielen die bezeichnenden Worte: „Europäische Hilfeleistungen ... oder eher Mittel von der Europäischen Union ... denn Hilfe ist vielleicht kein gutes Wort. Das steht uns zu. Die Geschichte ist so verlaufen, dass uns das wirklich zusteht.“(11) Eine solche Haltung ist in der erweiterten Zusammensetzung der EU isoliert. Die neuen Mitgliedsländer haben nämlich verstanden, dass ihre Position in der EU nicht von den historischen, sondern ausschließlich von den gegenwärtigen Verdiensten beim Aufbau einer dauerhaften Ordnung auf dem Alten Kontinent abhängt.

Entgegen der forciert vorgetragenen Ansichten haben alle Regierungen nach 1989 mit mehr oder weniger Erfolg Programme zur positiven Präsentation Polens im Ausland realisiert. Man hat auch viel für die Annäherung an andere Völker durch die Offenlegung der Geschichte erreicht. Der größte Fortschritt wurde durch die Beschäftigung mit der jüdischen Kultur und Geschichte in Polen erzielt. Der polnisch-jüdische Dialog erfordert eine lange und mühevolle Arbeit. Die breit gefächerte Bildungsarbeit des Museums in Auschwitz-Birkenau und dessen zahlreiche Initiativen stellen ein Beispiel der Wirksamkeit eines durchdachten, nachhaltigen Programms dar. Gleichzeitig wuchs in den neunziger Jahren in Polen das Interesse an jüdischer Kultur, es wurden zahlreiche Forschungsarbeiten, Ausstellungen und Festivals durchgeführt, Architekturdenkmäler renoviert und Friedhöfe gepflegt.

Die Vergangenheit im Westen und Osten Europas

Die Erinnerung an Krieg und Kommunismus generiert Probleme mit Deutschen und Russen. Wachsende nationalistische Stimmungen in Europa machen es auch nicht gerade leicht, sie zu überwinden. In der polnischen und europäischen Reflexion fehlt es an Nachdenken über Ursachen und Konsequenzen der lange währenden Teilung des Alten Kontinents. Westeuropa hat den Kommunismus nicht am eigenen Leib erfahren. Seiner Haltung gegenüber der Politik der heute Mächtigen in Moskau fehlt die Sensibilität Polens, das wie alle mitteleuropäischen Länder Putins Politik anders wahrnimmt.

Die westeuropäische Integration entwickelte sich im Verlauf mehrerer Jahrzehnte und verlief unter anderen historischen Bedingungen. Die neuen Mitglieder treten der EU heute dagegen mit einem völlig anderen Gepäck bei, in der Erwartung, dass der Westen sich ihre Erfahrungen aneignen und ins europäische Gedächtnis integrieren werde. Zugleich haben wir es mit einer wesentlichen Asymmetrie zu tun. Die westlichen Staaten, die von Hitlerdeutschland überfallen worden waren, haben die deutsche Schuld und die schmerzlichsten Erfahrungen längst verarbeitet. Für Polen und die übrigen postkommunistischen Staaten erlaubte erst die Befreiung von der sowjetischen Oberherrschaft der Welt die eigenen Wunden zu zeigen.

Das ist einer der Gründe, warum die Erinnerung der Deutschen an ihre eigenen Tragödien in Polen auf kein Mitgefühl stößt, und der Anstieg des Interesses der deutschen Öffentlichkeit an den Bombenangriffen der Alliierten und den Vertreibungen aus den Ostgebieten nach 1945 Besorgnis erregt. Wir hatten nämlich erwartet, dass sich unsere westlichen Nachbarn nach der Wiedervereinigung gemeinsam und tiefer mit ihrer historischen Schuld beschäftigen würden. Dies um so mehr, als in der Vorwendeideologie das Argument aufgetaucht war, eine gemeinsame Reflexion der Verantwortung von Ost- und Westdeutschen für die Folgerungen aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges sei notwendig. Nach der Abschaffung der Zensur kam mit ganzer Wucht die Frage wieder hoch, ob der Einmarsch der Roten Armee auf polnische Gebiete eine Befreiung war oder das Aufzwingen einer neuen Diktatur. Der 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges und der Charakter der internationalen Feierlichkeiten unter dem Diktat der Herrschenden in Moskau riefen ein Gefühl der Demütigung hervor und erweckten Besorgnis. Aber ist die durch eine Konkurrenz der Opfer gewonnene Stärkung des Selbstbewusstseins, wie sie sich manche Kreise in Polen, Deutschland und Russland wünschen, ist das Schüren der Konfrontation zwischen den Erinnerungskulturen und die depressive Geschichtsinterpretation ein Ausweg aus der Falle der Erinnerungspolitik?

Schlussfolgerungen

Die polnische Debatte über Geschichtspolitik ist Element der politischen Auseinandersetzungen um die künftige Gestalt der Polnischen Republik. Dabei geht es weder um Erkenntnisgewinn noch um eine Antwort auf die Frage nach der Priorität bestimmter historischer Traditionen oder um Bedingungen und Charakter der Evolution des Geschichtsbewusstseins. Es handelt sich nicht um eine Auseinandersetzung über die Bedeutung einzelner Epochen, nicht um eine objektive Bilanz, und auch nicht um die Nützlichkeit historischer Erfahrungen für die junge Generation. Hinter den flammenden Appellen für eine moderne Geschichtspolitik verbirgt sich eine populistische Kampagne zugunsten der in Polen regierenden Parteien. Ihre Autoren sind die wichtigsten politischen Akteure von PiS, Liga der Polnischen Familien, und bis zu ihrem Verzicht auf Regierungsbeteiligung auch der Bürgerplattform. Intellektuell werden sie von einer Gruppe von Wissenschaftlern und Publizisten unterstützt, die meist institutionell mit dem Regierungslager verbunden sind. Ihre politisierten Bilder der Vergangenheit zeigen eine selektive Herangehensweise an die historische Tradition Polens und dienen ausschließlich der Realisierung der Interessen einer politischen Option.

Das Thema Geschichtspolitik erschöpft sich in Schlagwörtern und Slogans. Bisher ist nämlich kein einziges durchdachtes Projekt vorgestellt worden. Fragmentarische, nicht schlüssige, durch keine sachliche Argumentation unterstützten Vorschläge, wie zum Beispiel die Idee der Gründung eines Freiheitsmuseums oder das Exponieren des Warschauer-Aufstands-Museums haben eher den Charakter von Erfolgspropaganda, transportieren keine zur Diskussion anregende Idee. Um so mehr, da sie von einer auf den Geschmack eines Massenpublikums zugeschnittenen Verleumdungskampagne gegen die postkommunistischen und Post-Solidarność-Eliten und deren Verhältnis zur Tradition und historischen Erfahrungen begleitet werden.

Die regierende Klasse versucht, sich das Recht auf die Interpretation der Geschichte anzueignen und sie zu monopolisieren, sie ignoriert die grundlegenden Gesetze, die die Entwicklung von Kultur und gesellschaftlichem Geschichtsbewusstsein regieren, sie behandelt die heutige Zeit als Hauptmaßstab zur Beurteilung der Vergangenheit. Wenn jede Abweichung von der geltenden Interpretationslinie an den Pranger einer von oben aufgezwungenen moralisierenden Vision der Geschichte gestellt wird, sind Dialog und demokratische Verhandlungen zwischen den verschiedenen Gedächtnisgemeinschaften unmöglich.

Die Propaganda der polnischen Geschichtspolitik basiert auf zwei falschen Diagnosen: die erste verkündet, der Sieg des Liberalismus und Individualismus in der Dritten Republik habe Geschichte und Gedächtnis verbannt; die zweite besagt, diese Politik habe zur Ausrottung des Patriotismus, zum Verschwinden des historischen Gedächtnisses und zur Schwächung des nationalen Zugehörigkeitsgefühls geführt. Thesen, die ausschließlich zum Nutzen einer politischen Kampagne aufgestellt werden. Die bewusste oder weniger bewusste Manipulation des Begriffs Liberalismus, der ausschließlich auf seinen marktwirtschaftlichen Aspekt reduziert wird, verwischt den Sinn und das Wesen der unvermeidlichen kulturellen und ideellen Veränderungen Polens. Der These vom Verschwinden des Patriotismus widersprechen wissenschaftliche Untersuchungen, die die Unumgänglichkeit von Veränderungen im Verständnis von nationaler Identität aufzeigen. Beide Thesen sind der für den Wahlkampf formulierten Losung der Aufteilung in ein „liberales“ und „solidarisches“ Polen untergeordnet. Dieses Schlagwort sollte das Profil der Partei der Kaczyński-Brüder unterstreichen, ignorierte jedoch vollkommen die Tatsache, dass die Trennungslinien heute ganz woanders verlaufen. Heute handelt es sich nämlich vor allem um Auseinandersetzungen zwischen Verfechtern eines fremdenfeindlichen Polen, das sich um ein eng verstandenes Vaterland konzentriert, und den Befürwortern eines offenen, toleranten Polen, das nach einem Kompromiss zwischen den differenzierten gesellschaftlichen Vorstellungen und Optionen sucht.

Geschichtspolitik kann man durch eine Zusammenarbeit im In- und Ausland gestalten, nicht durch Ausschluss; unter Bedingungen des Dialogs, und nicht der Schlacht um das Gedächtnis; davon überzeugt, dass der Gegenstand der Auseinandersetzung eine Materie voller Widersprüche, Mannigfaltigkeit und individueller Subjektivismen ist, und dass das historische Gedächtnis keine Wäscherei ist, in der man jedes Bild der Vergangenheit reinwaschen oder umfärben kann. Die öffentliche Zurschaustellung der Geschichte ersetzt eine rationale Forschungsanalyse nicht, und die Prioritäten des Instituts zum Nationalen Gedenken können die polnische historische Reflexion nicht dominieren. Die Aufgabe der Geschichte, selbst der amtlichen, muss in der Forschung und nicht im „Herumschnüffeln“(12) bestehen. Die Geschichtspolitik wird, auch wenn sie äußerst spektakulär und patriotisch ist, die individuelle, von der Basis kommende, freiwillige Mühe nicht ersetzen, die mit der Erinnerungsarbeit verbunden ist. Ohne diese Arbeit kann sich die von den Regierungskreisen exponierte Musealisierung von Erinnerung, nur als eine Illusion, als eine Geschichte zum Vorzeigen erweisen.

Polen verliert die Schlacht um die Erinnerung nicht: die Ausformung der Erinnerungsarbeit ist nämlich eine Tätigkeit, die keine Schlachtregeln verlangt. Es ist ein unaufhörlich andauernder Prozess. Der Weg zur Demokratie ist immer ein Dialog mit der Vergangenheit. Doch kein dekretierter Patriotismus wird die jungen Polen im Land halten können, wenn man ihnen keine attraktiven Arbeitsplätze schafft, keine Autobahnen baut und nicht dazu beiträgt, dass Bedingungen entstehen, auf die sie in der Konfrontation mit der uns umgebenden Realität stolz sein können. Geschichte und historische Erinnerung sind ein wichtiger Bestandteil der kollektiven Identität, doch wenn man sie als gleichwertiges Element der Politik behandelt, wird die Lösung aktueller Auseinandersetzungen und Probleme erschwert.

18./19. November 2006, Collegium Polonicum (Konferenz: Was ist Heimat?)

Aus dem Polnischen Agnieszka Grzybkowska

 

Literaturhinweise:

(1) D. Gawin, P. Kowal, Polska polityka historyczna (Polnische Geschichtspolitik), in: Polityka historyczna. Historycy – politycy – prasa. (Geschichtspolitik. Historiker – Politiker – Presse). Konferenz unter der Ehrenschirmherrschaft von Jan Nowak-Jeziorański. Raczyński-Palais in Warschau, Museum des Warschauer Aufstands, Warszawa 2005, S. 11.

(2) G. Górny, Koniec „końca historii“ [Das Ende vom „Ende der Geschichte], in: Przewodnik Katolicki, 45/2004, S. 30/31.

(3) Polska polityka historyczna [Polnische Geschichtspolitik], in: Biuletyn Instytutu Pamięci Narodowej, Nr. 5, Mai 2006, Aussagen von A. Nowak siehe S. 4 und 7, 28.

(4) Z. Krasnodębski, Zwycięzcy i pokonani [Sieger und Besiegte], in: R. Kostro, T. Merta (Hrsg.), Pamięć i odpowiedzialność [Gedächtnis und Verantwortung],ebda, S. 68 und 69.

(5) R. Kostro, K.M. Ujazdowski, Odzyskać pamięć [Das Gedächtnis wiedererlangen], in: R. Kostro, T. Merta (Hrsg.), Pamięć i odpowiedzialność [Gedächtnis und Verantwortung],ebda, S. 45.

(6) Siehe u.a.: R. Traba, Walka o kulturę [Der Kampf um die Kultur], in: Przegląd Polityczny 75/2006, S. 46-53.

(7) R. Kostro, K.M. Ujazdowski, Odzyskać pamięć [Das Gedächtnis wiedererlangen], in: R. Kostro, T. Merta (Hrsg.), Pamięć i odpowiedzialność, [Gedächtnis und Verantwortung], ebda, S. 50/51.

(8) Jakiej polityki historycznej potrzebuje Polska? [Welche Geschichtspolitik braucht Polen?], in: Polityka historyczna, ebda, S. 113.

(9) Z. Krasnodębski, Zwycięzcy i pokonani, ebda, S. 69. Vgl. auch: Pamięć i polityka zagraniczna (Gedächtnis und Außenpolitik), Fundacja im. Stefana Batorego, Warszawa 2006.

(10) Z. Krasnodębski, Pożegnanie z III Rzeczypospolitą (Abschied von der Dritten Republik), in: Rzeczpospolita,10. 09. 2005.

(11) Amtsantrittsrede von Premierminister Jarosław Kaczyński: www.premier.gov.pl/1433_18017.htm

(12) M. Kula, Lepiej nie nadużywać (historii) [Besser (die Geschichte) nicht missbrauchen], in: Przegląd Polityczny Nr. 76, 2006, S. 39-48.