Was ist Heimat?

Thesen zum Heimatbegriff
  1. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Heimat war ganz konkret auf Haus und Hof bezogen. „Der jüngste Sohn kriegt’s Heimat“ heißt, dass er den Grundbesitz erbt.

  2. Dieses „Heimatrecht“ erweiterte sich auf den Geburts- und Wohnort. Bis in das 19. Jahrhundert war der Heimatangehörige diesem Ort in „Heimatpflichten“ und „Heimatrechten“ verbunden.

  3. Diese Rechte und Pflichten gehören heute zum Staatsbürgerrecht.

  4. Mit der Verbindung von Heimweh und Heimat wurde zunächst eine Krankheit (mal du pays, nostalgia) angesprochen: „..gestorben vom Heimwe ...“ hieß es 1569 über einen Söldner.

  5. Seit der Romantik wurden Heimat und Heimweh zu einem literarischen Topos, der vor allem im bürgerlichen Realismus, in der Dialektdichtung und im volkstümlichen Liedgut eine dörfliche Idylle in das Zentrum stellte.

  6. Seit der Wilhelminischen Ära bis zu seiner Kulmination im Nationalsozialismus wurde der Heimatbegriff immer stärker nationalisiert. Heimatkunstbewegung, Deutscher Bund Heimatschutz, Heimatkunde als Schulfach wandten sich gegen Großstadt und Internationalismus zu einer „Nation als Heimat einer Volksgemeinschaft“.

  7. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Heimatbegriff in den beiden deutschen Staaten kontrovers diskutiert.

  8. Zunächst herrschte während der Besatzungszeit das Thema Heimatverlust und Heimweh vor, das bald von Landsmannschaften zu einem politischen Anspruch auf die „alte Heimat“ erklärt wurde.

  9. In der ehemaligen DDR wurde „sozialistische Heimat“ in Übereinstimmung zum „sozialistischen Vaterland“ diskutiert und gelehrt.

  10. In der BRD entwickelte sich die Diskussion kontroverser, war aber vor allem an Heimat unter der Perspektive von Entfremdungs- und Anpassungsvorgängen in einer mobilen Gesellschaft interessiert. In der westlichen Linken wurde Heimat zu einem regional und international argumentierenden Protestbegriff für nationale Minderheiten und gegen Zentralisierungserscheinungen und Umweltzerstörungen: „Keine Startbahn West“.

  11. Heute, nach der Jahrtausendwende, stehen wir unter Globalisierungsdruck. Eine freiwillige Mobilität wird als Ziel des flexiblen Menschen gesetzt. Ist „globale Heimat“ die Devise? Und wie sieht sie – und für wen – auf dem Weg „von der lokalen zur transnationalen Heimat“ aus?

Ist das die Heimat, „worin noch niemand war“, wie Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung aus dem Exil den Noch Nicht-Ort Heimat beschwört.

Menschen leben in Räumen. Können sie diese Räume als soziale Räume in Bedeutungsfülle gestalten? Sind sie hier und heute an Kultur beteiligt? Ist die Gestaltung von Räumen ein öffentlicher Prozess, oder hat sich Öffentlichkeit in Kulturplanung von oben, und in Kulturkonsum und Heimkultur gespalten?

Heimat – ein öffentlicher Raum?

Was ist Heimat? Hat Heimat etwas mit Öffentlichkeit zu tun oder ist sie nur unsere subjektive Wahrnehmung eines Kindheitstraums der „Geborgenheit“? Heimat, und das ist meine Grundformel, ist ein Raum, der seinen Bewohnern materielle und soziale Sicherheit gewährt, ihnen kulturelle Entfaltungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten gibt und Identität als Sich Erkennen, Erkannt- und Anerkanntwerden. Kurz: Heimat wird als eine Verortung in menschlicher Nähe und öffentlicher Anerkennung, alltagsweltlicher Aktivitätsgewährung und sozio-kulturellem Vertrauen gesehen. So kann man Heimat allerdings auch verlieren und neu gewinnen. Hier setzt die politische Verantwortung für Heimat als einem öffentlichen Raum ein.

Im Gegensatz zu dem Privatraum des Heims, verstehe ich Heimat als einen kulturell definierten Raum der Öffentlichkeit, der in vormodernen oder traditionalen Gesellschaften die Verbindung – oder die kulturelle Gewissheit – zwischen der sozialen Person und dem Individuum, zwischen dem Draußen und dem Drinnen, zwischen dem öffentlichen Platz und dem Heim hergestellt hat. Diese Heimat hat sich ebenso aus der Gesellschaft verabschiedet wie die moderne lokale Öffentlichkeit des bürgerlichen Räsonnements. Wenn wir vom Verlust und Verfall der lokalen Öffentlichkeit sprechen, dann ist sowohl die sozio-politische Dimension der diskursiven Praxis damit gemeint, als auch der dafür zur Verfügung stehende öffentlich zugängliche Raum. Dieser Verlust, einschließlich der damit einhergehenden Privatisierungstendenzen, trägt auch dazu bei, dass immer mehr öffentlicher Raum zu Nicht-Orten degradiert wird.

In der Postmoderne (oder der Zweiten Moderne), so sagt man, ist die Lokalität der Globalität gewichen und die Bewohner dieses Globus bewegen sich ruhelos zwischen Heimwelten und Nicht-Orten oder zwischen der Tyrannei der Intimität und sozialer Indifferenz in globaler Effizienz. Ist das die Zeit des „Öffentlichkeitslochs“, in der die Zeit der alten ortsbezogenen Öffentlichkeit zu Ende geht? Hier wird der Verlust von Verortung und Verantwortung im lokalen öffentlichen Raum angesprochen.

Trotz aller Mobilität und Vielfalt von Heimatfindungen in der Gegenwart, bestimmt sich Heimat für mich noch immer aus sozialer und kultureller Zugehörigkeit, die dem bloßen Vertragscharakter, der Koexistenz einander gleichgültiger Individualitäten und dem sprachlosen Durchqueren von Signalräumen oder Nicht-Orten entgegensteht.

Wichtig ist die aktive und (mit)gestaltende Aneignung des Lebensraums. Dieses in der Heimatbestimmung vernachlässigte Kennzeichen wird gerade unter der Perspektive eines ebenso vernachlässigten aktiven Kulturbegriffs und hinsichtlich der freiwilligen und unfreiwilligen Dynamik vom Heimatsuchen relevant.

Heimat und Grenzräume

Heimat als Ort der Identifikation ist erkennbar. Zu dieser Erkennbarkeit gehört auch die Grenze zum nicht Erkennbaren, auch zum Verbotenen, zum „anderen Ort“. Eine der treffendsten und zukunftsoffensten Definitionen von Grenzen und Grenzüberschreitungen hat uns Michel de Certeau gegeben. Sein Beispiel sind Fluss und Brücken.

Fluss bedeutet Grenze und Überquerung, und das Symbol für diese Überquerung sind die von Menschen gebauten Brücken. „Überall gibt es die Zweideutigkeit der Brücke“, sagte Michel de Certeau in Kunst des Handelns, „mal verbindet und mal trennt sie ... Als Überschreitung der Grenze und Ungehorsam gegenüber dem Gesetz des Ortes steht sie für den Aufbruch, die Auflösung eines Zustands, den Eroberungswillen“. Das „Gesetz des Ortes“ ist das Gesetz des „Eigenen“, ein Ausschließendes, Beharrendes, das durch Grenzen von dem Anderen, dem Fremden, mit dessen Gesetzen des Eigenen, geschieden ist. Der Fluss als Grenze, die Brücke als Überschreitung. Das kann Begegnung und Erneuerung des Eigenen und des Fremden bedeuten, aber auch Eroberung und Vernichtung, sowohl des Eigenen als auch des Fremden. Die Zweideutigkeit der Brücke trifft auf die Zweideutigkeit des Flusses als Trennendes und Verbindendes.

Auch hier bei diesem Kongress überqueren wir ständig eine Brücke, eine Brücke über die Oder. Sie verbindet Frankfurt mit Słubice, Deutschland mit Polen. Eine zivile Brücke, die lange Getrenntes wieder verbinden soll?

Flüsse und Brücken sind Elemente, die Bewegung fordern, Räume erschließen, Eigenes und Fremdes (Menschen und Dinge, Kultur und Natur) näher rücken.

Im Gegensatz zu der Grenze als einem linear verlaufenden Schnitt zwischen zwei sich voneinander unterscheidenden (oft sogar feindlichen) Einheiten, wie eben Nationen, ist der Grenzraum weniger eindeutig zu definieren. Dieser Grenzraum liegt beidseits der Grenze oder im Niemandsland, der neutralen Zone, zwischen zwei Hoheitsgebieten. Er war als Niemandsland wie der unbewohnbare und verbotene Streifen der feindlichen deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte, ohne Brücken. Der andere Grenzraum, der sich hinter den Grenzen im je eigenen Land erstreckte war nicht Niemandsland, sondern im Falle der nationalen Grenzen Peripherie eines Nationalstaates. Vom Zentrum her konnte diese Peripherie in einem ideologisch aufgeladenen Klima strategisch-politischen Außenposten und Festungsökonomie bedeuten, aber auch Völkerverständigung mit Brückenkopffunktion.

Ein anderes Schicksal des Grenzraums ist seine ökonomische und soziale Vernachlässigung vom Zentrum aus betrachtet. Dadurch wird der Grenzraum zum Abwanderungsgebiet. Dann verliert der Grenzraum seinen Heimatcharakter. Ökonomische Entwicklungshilfe kann die Kluft zwischen Zentrum und Peripherie nur überwinden, wenn sie den Bewohnern auch wieder Aktivitätsentfaltung und Verortung in einer grenzüberschreitenden Grenzheimat gibt, Chancen des Grenzraums als Zwischenraum, als „fröhliche Peripherie“.

Zwischenraum und „fröhliche“ Peripherie

Der Grenzraum, die Peripherie, als Zwischenraum kann auch eine Chance sein, die den Umtriebigen – und Umgetriebenen – einer erbarmungslosen technologischen Fortschrittsgeschichte nicht zuteil wird. Zwischenräume sind die von dem ordnenden, einordnenden Zentrum vernachlässigten Räume. Sie sind noch offen für eine selbstbestimmte Öffentlichkeit. „Die ‚Zwischen‘-Räume stecken das Terrain ab, von dem aus Strategien – individueller und gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozess, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen“, sagt Homi K. Bhabha in seinem Buch Die Verortung der Kultur. Er spricht von einer kulturellen Grenzarbeit und der „Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt“. In dieser widerständigen kulturellen Hybridität wurde Heimat geschaffen. Diese Heimat hat wenig mit einer ererbten Nationalität und ihrem kollektiven kulturellen Konsens oder einem ererbten Recht auf die Heimat der Vorfahren zu tun, sondern mit einem Recht auf einen innovativen Ort Heimat in hybriden Begegnungen. Und damit nähern wir uns der fröhlichen Peripherie.

Für mich ist die fröhliche Peripherie eine Metapher möglicher Grenzbegegnungen, die bei Menschen zu neuen Heimatideen führen könnten. Die fröhliche Peripherie bedeutet selbstbewusste Identifikation mit dem sozial und kulturell Eigenen als Differentem und seine performative „Veröffentlichung“ als Repräsentation gegenüber dem Anderen, sei es das eigennationale Zentrum, sei es die Global City auf der anderen Seite des Flusses oder der Welt, sei es, und das ist mir hier besonders wichtig, gegenüber der anderen, der fremden Peripherie. Wichtig wird der Dialog auf der Grenze, über die Grenze hinaus. Performance ist sowohl eine Entäußerung des Eigenen als auch eine Verinnerlichung des Anderen. Wir hören uns zu, wir spielen miteinander, wir lernen uns kennen, und wenn es gut geht, können wir jenseits von Konkurrenzkampf gemeinsame und grenzüberschreitende Heimat entwickeln. Heimat nicht nur als Spurensicherung aus Erinnerungserzählungen von Zeitzeugen, sondern als selbstgestalteten und gegenwärtigen Alltag mit den Anderen jenseits von Grenzen.

Ist der Dialog zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen den Generationen, der Dialog der Peripheren in den Peripherien, ein Zwischenraum? Die Wege in die Orte des Fremden befreien den eigenen Ort aus der Lethargie einer statischen und grenzziehenden Heimat und verwandeln Heimat in einen beweglichen und grenzüberschreitenden Zwischenraum. Zwischenräume sind Grenzräume, in denen Möglichkeits-Orte geschaffen werden können, ja, „fröhliche Peripherien“.

18./19. November 2006, Collegium Polonicum (Konferenz: Was ist Heimat?)


Literaturhinweise:

W. Belschner, S. Grubitzsch, Ch. Leszczynski, S. Müller-Doohm (Hg.), Wem gehört die Heimat? Beiträge der politischen Psychologie zu einem umstrittenen Phänomen. Opladen 1995

Sven Bergmann, Regina Römhild (Hg.), global heimat. ethnographische recherchen im transnationalen frankfurt, in: KulturanthropologieNotizen Bd. 71, Frankfurt 2003

Certeau, Michel de, Kunst des Handelns. Berlin 1988

Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000

Eduard Führ, (Hg.), Worin noch niemand war: Heimat. Eine Auseinandersetzung mit einem strapazierten Begriff. Historisch – philosophisch – architektonisch, Wiesbaden, Berlin 1985

Ina-Maria Greverus, Auf der Suche nach Heimat, München 1979

Ina Maria Greverus, The „Heimat“-Problem, in: H.W. Seliger (Hg.), Der Begriff „Heimat“ in der deutschen Gegenwartsliteratur. München 1987

Ina-Maria Greverus, Anthropologisch Reisen, Hamburg 2002