Die Jüdische Gemeinde in Stettin
Ich spreche zu Ihnen als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Stettin. Vielen Dank an die Organisatoren, dass Sie mich zum hier versammelten geschätzten Historikerkreis eingeladen haben. Ich beschäftige mich weder professionell noch als Laie mit der Geschichte. Nur so viel, wie mich mein Leben eben dazu zwingt.
Mit meinen eigenen Worten möchte über das heutige, alltägliche Leben der Gemeinde sprechen. In die Geschichte werde ich mich nicht vertiefen, denn dazu gibt es entsprechende Publikationen des schon nicht mehr lebenden Dr. Kołodziejek und des zum Glück noch lebenden und hier anwesenden Dr. Mieczkowski, ein junger Mensch, der sich mit diesem Thema beschäftigt und mit dem wir als Organisation, als Gemeinde und als Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Juden in engem Kontakt stehen. Wir arbeiten gewissermaßen täglich zusammen und wenn es uns möglich ist, stellen wir auch Materialien zur Verfügung.
Die Stettiner Jüdische Gemeinde hält sich an ihre Satzung, die der geltenden Verfassung, dem Gesetz über das Verhältnis zwischen Staat und Jüdischen Gemeinden und der internen Satzung des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in Polen entspricht. Die Gemeinde zählt heute etwa 62 Mitglieder, alle werden als Mitglieder behandelt, obwohl einige von ihnen nicht im eigentlichen Sinne jüdisch sind, sondern z.B. Witwen von jüdischen Ehemännern. Sie haben satzungsgemäß weder aktives noch passives Wahlrecht, aber ansonsten werden sie wie Mitglieder behandelt. Wir halten uns an die Tradition, denn früher sind sie in die Gemeinde aufgenommen worden. Die gegenwärtige Satzung legt fest, dass nur Personen jüdischer Herkunft Mitglieder sein können, die keiner anderen Religion angehören. Also wir verlangen nicht unbedingt, dass es sich um gläubige Personen handelt. Die Witwen wurden aufgrund früherer Satzungen als Mitglieder betrachtet, deshalb wäre es unzumutbar, sie heute hinauszuwerfen.
Die Gemeinde wählt alle vier Jahre einen fünfköpfigen Vorstand. Die Satzung spricht von drei bis fünf Personen, die unter sich den Vorsitzenden auswählen. Zuerst war ein anderer Kollege Vorsitzender, dann gab es einen zweiten aber nur für einen kurzen Moment, na und dann wollte es keiner machen, weil sie keine Zeit hätten. Also wurde ich dazu gedrängt. Laut Satzung sind aber zwei Personen notwendig, wenn es um offizielle Erklärungen der Gemeinde geht, der Vorsitzende und ein weiteres Vorstandsmitglied. Deshalb sind meine heutigen Ausführungen gänzlich privat. Ich habe sie nicht mit dem Vorstand abgesprochen.
Wir haben keinen Rabbiner, unser religiöses Leben beschränkt sich darauf, die Traditionen früherer Generationen fortzuführen. Am Samstag früh halten wir die Schabbatgebete und sonst die Gebete an traditionellen jüdischen Feiertagen ab, wie zu Rosch Haschana, Jom Kippur, Pessach und Sukkot, dazu bereiten wir feiertägliche Mittag- und Abendessen vor. Wenn es notwendig ist, organisieren wir auch Bestattungen auf dem jüdischen Friedhofsquartier. Um den Friedhof an sich kümmern wir uns ebenfalls. Zum religiösen Leben würde ich auch die koschere Küche zählen. Koscheres Fleisch bekommen wir über den Verband der Jüdischen Gemeinden in Warschau, der es aus Białystok holt. Wir kochen für 30-35 Personen, die Mehrzahl der Essen tragen wir aus. Viele Mitglieder der Gemeinde sind schon alt, gehen nur selten oder gar nicht mehr aus dem Haus, ihnen werden die Mahlzeiten nach Hause gebracht. Einen Teil der weiteren Produkte (außer Fleisch) kaufen wir vor Ort, ein anderer Teil wird regelmäßig aus Warschau geliefert. Wir haben die Liste der Waren, die wir kaufen können, natürlich vom Rabbiner, und daran halten wir uns. Die Küche arbeitet die ganze Woche von Montag bis Freitag und bereitet auch die Mahlzeiten zum Schabbatgebet und den traditionellen Kidusz vor. Wir bedienen uns selbst.
Der Mittagstisch wird vom American Jewish Joint Distribution Committee finanziert, das ist eine karitative Organisation, die Spenden – vor allem amerikanischer Juden – in der ganzen Welt verteilt, in Israel und in der Diaspora. Die Tätigkeit unserer Gemeinde wird zur Zeit hauptsächlich vom Verband der Jüdischen Gemeinden in Warschau unterstützt und zusätzlich haben wir noch minimale eigene Einnahmen.
Darüber hinaus entfalten wir eine verhältnismäßig breite eigene karitative Arbeit, wir kümmern uns um alte und kranke Personen. Damit beschäftigt sich unser Sozialarbeiter, der bei der Gemeinde angestellt ist, aber vom Verband der Jüdischen Gemeinden in Warschau bezahlt wird. Er arbeitet mit allen jüdischen Organisationen und Kreisen zusammen, die in unserer Gegend existieren. Er ist professioneller Koordinator für die Betreuung der Bedürftigen und die Vermittlung von Sozialhilfe. Zwei Mal im Jahr führt er Gespräche und Recherchen durch, um angemessen auf Veränderungen reagieren zu können. Wenn es notwendig ist, wendet er sich an den Vorstand. Er verfügt natürlich über Möglichkeiten im Rahmen des Warschauer Sozialfürsorgeausschusses, aber wenn eine Angelegenheit dort nicht geregelt werden kann, und die Gemeinde in der Lage ist zu helfen, wendet er sich an die Gemeinde und wir unterstützen die betreffende Person mit kleinen finanziellen Zuwendungen. Keine Probleme gibt es bei der Unterstützung von Überlebenden des Holocaust, sie bekommen eine ziemlich umfangreiche und vielseitige Hilfe. Hier gibt es keinerlei Einschränkungen. Schlechter steht es um die Personen, die nach dem Krieg geboren wurden. Die heutige wirtschaftliche Entwicklung führt zu Arbeitslosigkeit, aber die Arbeitslosen müssen ihre Kinder versorgen. Und es gibt auch junge Leute, die studieren und ihren Unterhalt nicht aufbringen können. Das ist ein neues Problem und harrt noch der Lösung.
Viel Mühe und Arbeit steckt das Gemeindebüro in Restitutionsangelegenheiten, dabei geht es um die Rückerstattung des Eigentums der Jüdischen Gemeinden der Vorkriegszeit. Die ganze Prozedur vollzieht sich in Übereinstimmung mit dem Restitutionsgesetz. Die Büroleiterin, die eine halbe Stelle hat, beschäftigt sich vor allem mit diesen Dingen. Unsere Gemeinde hat fast 200 Anträge auf Rückübertragung von Friedhöfen, Synagogen, Grund und Boden, auf dem früher Synagogen standen und Gemeindegebäuden gestellt. Es gibt zur Zeit zwei Regulierungskommissionen und Experten schätzen, dass dort die Arbeit für 19 Jahre gesichert ist. Das geht alles sehr langsam. Wie man weiß, wollen die einen etwas haben, und die anderen nichts geben. Das zieht sich hin.
Das Restitutionsgesetz betrifft ausschließlich das Eigentum der früheren Gemeinden und man muss nachweisen, dass die Objekte, um die es geht, für religiöse Zwecke genutzt wurden. Obwohl z.B. ein Waisenhaus oder Altersheim der Jüdischen Gemeinde gehörte, muss man nachweisen, dass es religiös genutzt wurde. Geschieht das nicht, kann die Kommission die Forderung nicht anerkennen. Aber das ist schwer nachzuweisen, denn oft gibt es keine Dokumente mehr. Übrigens hatten wir in Stettin an der Kaschubskastraße so einen Fall. Niemand stellte in Frage, dass das ganze Haus Eigentum der Jüdischen Gemeinde war, trotzdem sollten wir nachweisen, dass es für religiöse Zwecke genutzt wurde. Das konnten wir nicht und haben die ganze Sache verloren. Meiner Meinung nach ist diese Restitutionsangelegenheit ein „trojanisches Pferd“, denn es gibt nur sehr wenige Jüdische Gemeinden in Polen. Allein das notwendige Procedere verlangt so große Anstrengungen, dass uns für etwas Anderes nicht viel Kraft bleibt. Meiner Meinung führt das in eine Sackgasse.
In Polen gibt es sieben Gemeinden und zwei Niederlassungen des Verbandes der Jüdischen Gemeinden. Die einzelnen Gemeinden sollten auf ihrem Gebiet die Rückübertragungsanträge stellen. Das ganze Land wurde in Territorien aufgeteilt und die Gebiete, die zu keiner Gemeinde gehören, sollte der Verband der Gemeinden übernehmen. In dessen Namen tritt die Stiftung zum Schutz des Jüdischen Kulturerbes auf. Die „Territorien“ decken sich übrigens nicht mit der jetzigen Verwaltungsstruktur. Unsere Gemeinde befindet sich in der Wojewodschaft Westpommern, aber Restitutionsanträge sollten wir für die Gebiete der alten Wojewodschaften Stettin, Gorzów (Landsberg a.d. Warthe) und Piła (Schneidemühl) stellen. Später entfiel Gorzów, aber die Anträge hatten wir gestellt. Auf die schnelle Tour stellten wir diese 200 Anträgen. Aber sie enthalten oft keinerlei Dokumente außer der Angabe des Ortes. Jetzt muss also noch alles gesammelt werden, dokumentiert usw.
Im Rahmen dieser Zuständigkeit fiel uns auch Słubice zu, wir stellten also einen Antrag auf Rückübertragung des Friedhofs. Formal fällt diese Gegend heute nicht mehr in unsere Zuständigkeit. Słubice hätten wir übrigens nach dem Restitutionsgesetz nicht bekommen können. Aber Rabbiner Polatsek in New York folgt der Maxime „steter Tropfen höhlt den Stein“. Er bringt es fertig bei allen anzurufen, beim Słubicer Bürgermeister, beim Wojewoden der Wojewodschaft Lubuskie, beim Ministerpräsidenten, dem Sejmmarschall und in allen Ministerien, beim polnischen Staatspräsidenten und in den Vereinigten Staaten angeblich auch noch bei Kongressabgeordneten und beim Präsidenten. Er hat Himmel und Erde in Bewegung gesetzt. Und – um endlich Ruhe zu haben – wurde der Friedhof schließlich der Stettiner Gemeinde zugesprochen. Gleich am folgenden Tag hieß es, dort sei ein Gebäude einsturzgefährdet. Vorher hatte es ein paar lange Jahre dort gestanden und war offensichtlich nicht gefährdet. Aber in dem Moment, als es der Gemeinde zugesprochen worden war, gab es Beschwerden: das Gebäude einsturzgefährdet, der Friedhof verdreckt usw. Und es kam eine Aufforderung von der Bauaufsicht, in kürzester Zeit müsse das alles dort liquidiert werden. Außerdem wurden ständig Teile des Zauns entwendet, die Polizei schickte Vorladungen, verlangte Aussagen ... Probleme gab es ohne Ende. Übrigens nicht nur mit diesem Friedhof. Die Behörden hätten uns am liebsten alle Friedhöfe auf einmal zurückgegeben – und damit ihr Problem erledigt. Den Słubicer Friedhof haben wir jetzt der Stiftung zum Schutz des Jüdischen Kulturerbes übertragen. Vor einigen Tagen habe ich zusammen mit einem weiteren Vorstandsmitglied die entsprechenden Regelungen bei einem Notar unterschrieben – das ist also nicht mehr unser Problem.
Wie ich schon sagte, haben wir in Stettin keinen Rabbiner, keinen geistlichen Führer. Das bereitet uns viele Probleme. Kaum noch jemand kann jiddisch oder Gebete sprechen. Meiner Meinung nach stirbt das alles langsam aus. Das ist meine Meinung, ich habe keine Angst davor, mir den Mund zu verbrennen, und kann sagen was ich denke. Also: Alles hat zwei Seiten. Nimmt man junge Leute jüdischer Herkunft und hilft ihnen, ihr Wissen und ihre kulturellen Kenntnisse zu erweitern, vertieft das ihr jüdisches Selbstgefühl – und das garantiert dann, dass diese jungen Leute zu 99 Prozent Polen verlassen. Ich weiß das persönlich noch aus den 1970er Jahren, als ich als junger Mensch um die dreißig junge Leute bei der Sozial-Kulturellen Gesellschaft der Juden zusammengebracht habe – alle sind weggefahren. Es ist schwer hier tätig zu sein, je mehr man von sich selbst einbringt, desto schneller fahren sie weg. So ist die Realität.
17. Juni 2007, Groß Neuendorf, Workshop: Jüdische Spuren in der deutsch-polnischen Grenzregion