Geschichte(n) aus Czelin (Zellin)
Frühere deutsche und heutige polnische Bewohner eines kleinen Ortes an der Oder tauschten ihre Erinnerungen aus
Viele Deutsche mussten 1945 ihre Heimat östlich der Oder verlassen. Polen, die ebenfalls aus dem Osten ihres Landes stammten, kamen dorthin. Nur selten werden die Erinnerungen "von damals" ausgetauscht. In
Czelin war es - 62 Jahre nach dem Krieg - jetzt endlich soweit.
"Meinen 20. Geburtstag haben wir noch im Januar 1945 in Zellin gefeiert. Als am 1. Februar die Russen kamen, haben wir Mädchen uns vor Angst im Wald versteckt. Meinen Vater haben sie gleich einkassiert, der kam nach Sibirien. Meine 18-jährige Schwester, die ich erst ein halbes Jahr später in einem Lager in Posen
wiedertraf, ist dort verhungert. Auch wir sollten nach Sibirien, aber der Güterzug wurde aus Zufall in Polen aufgehalten. Meine Mutter fand ich dann im Herbst 1945 in Berlin wieder. Wir kamen dort bei Bekannten unter. Die gaben mir, weil ich sehr krank war, eine Sirup-Stulle zu essen, denn sie hatten ja selber nichts."
Im Speiseraum der Grundschule von Czelin herrscht angespannte Stille, als Erika Krupki ihre Geschichte erzählt. Die meisten der etwa 70 Anwesenden können den Bericht der Deutschen nachempfinden, denn sie haben in jenem schlimmen Krieg ähnlich Schreckliches erlebt. Stanislaw Mirkiewicz beispielsweise ist genau wie Erika Krupki 82 Jahre alt. "Ich kann mich noch an die Deutschen erinnern, die vor dem Zweiten Weltkrieg bei uns in Konin lebten", sagt der kleine Mann. Man habe damals friedlich zusammen gelebt,
berichtet er, und es klingt, als wolle er sagen: Warum Hitlers Truppen dann später Polen überfielen, habe ich nicht verstanden.
Mirkiewicz kam 1947 aus dem gleichen Grund wie viele andere Polen in die neuen Westgebiete an der Oder: "Man hatte uns gesagt, dass es hier Arbeit gibt. Doch dann sah es hier ganz anders aus." 80 Prozent der Häuser von Zellin, das einmal eine stattliche Gemeinde mit 1.200 Einwohnern, einer Landwirtschafts-Dömane, einer Brauerei und Handwerkern war, seien zerstört gewesen. "Das haben die Russen gemacht", murmeln die Deutschen, während Mirkiewicz weiter erzählt. "Wir sahen am anderen Ufer der Oder die Lichter in den Häusern brennen. Bei uns gab es zunächst keinen Strom. Und später mussten wir den Ort nachts abdunkeln, das hatten die Sicherheitsbehörden wegen der angeblichen Gefahr angeordnet", fährt der Pole fort. "Sogar die Tauben sollten wir töten, damit keine Botschaften zu den Deutschen gelangen", sagt er und verrät schelmisch: "Das haben wir aber nicht gemacht."
Viele frühere Zelliner waren seit den 60er Jahren schon zu Besuch in Czelin. "Ich nehme immer Sachen oder Süßigkeiten für die Familie Calka mit. Die haben sechs Kinder, sind arbeitslos und wohnen neben dem Haus, in dem mein Vater früher eine kleine Lebensmittel-Handlung hatte", berichtet Heinz Lahrsow, der in Weinböhla bei Dresden lebt. Nach 1990 gab es auch regelmäßige Heimattreffen der Zelliner am deutschen Ufer der Oder. Doch so, wie an diesem Freitagnachmittag, an dem sich Deutsche und Polen gegenseitig
ihre Geschichten erzählten, war es noch nie.
Dass es zu dieser eindrucksvollen Begegnung kam, ist dem Projekt "Spurensuche" zu verdanken, welches von der Brandenburger Ausländerbeauftragten und der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg
aus EU-Mitteln finanziert wird. Zu den Exkursionen in die „Alte Heimat“ gehören immer auch Begegnungen mit deren neuen Bewohnern. Am Pfingstmontag ist ein ähnliches Treffen in Nowe Warpno (Neuwarp) am Oderhaff geplant. Am 17. Juni wird in Groß Neuendorf (Märkisch-Oderland) über jüdische Spuren beiderseits der Oder diskutiert. Und im Herbst gibt es eine Exkursion an die ehemalige Ostgrenze Brandenburgs, die etwa 80 Kilometer östlich der heutigen Grenze verlief.
MOZ, 21. Mai 2007, Seite 9