Geschichten über ein Paradies an der Oder
Erstes Treffen in Czelin
Nach den Messdienern kommen der katholische und der protestantische Pfarrer. Der Gottesdienst beginnt. „Das ist ein Tag, den uns der Herr schenkte“, singen die Polen. „Danke für diesen guten Morgen, danke für den neuen Tag …”, singen die Deutschen. Barbara Atroszko, Lehrerin an der Schule in Czelin, liest den Abschnitt aus dem Johannes-Evangelium vor: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.“ Später, nachdem sich alle in der Schule versammelt haben, wird die Schulleiterin Kazimiera Atroszko sagen: „Es ist gut, dass wir uns in einer Schule treffen. Das ist für alle ein Ort der Kindheit.“
Neben ihr steht lächelnd Raimund Koch, Chef der deutschen Gruppe, und erzählt: „Ich wurde nicht in Zellin geboren. Hier wurde meine Mutter geboren. Sie stammte aus der Familie Barsch, die in diesem Dorf seit Jahrhunderten lebte. Die Geschichte der Familie Barsch und anderer deutscher Familien ging 1945 zu Ende. In demselben Jahr nahm im polnischen Czelin die Geschichte der polnischen Familien ihren Anfang.“
Gib uns Kraft …
Czelin liegt in der Gemeinde Mieszkowice. Gerade hier wurde am 27. Februar 1945 der erste polnische Grenzpfahl an der Oder in die Erde gerammt. Gehauen hat ihn Unteroffizier Adolf Wędrzyński, ein Zimmermann aus Wolhynien. Ein ansehnliches Denkmal soll daran erinnern. Es steht unweit des mächtigen Flusses, am Fuße eines hohen Ufers, das zu einem Amphitheater umgestaltet wurde. Von hier, von den nahen Orten Güstebiese, Zäckerick, Altrüdnitz, brachen am 16. April 1945 die Soldaten zur Oderoffensive auf. Der Zweite Weltkrieg ging zu Ende, der Fluss führte förmlich Blut ... Unteroffizier Wędrzyński kam ums Leben.
Auf dem Hügel liegt hinter Akazien, Fliedergebüsch und Klatschmohn ein großer umgestürzter Betonpfeiler. Überbleibsel jener Zeit. Die Akazien duften ...
In der Kirche von Czelin treffen sich Deutsche, ehemalige Einwohner des deutschen Dorfes Zellin (oft samt ihrer Nachfahren), und Polen, heutige Einwohner von Czelin. Ein ökumenischer Gottesdienst wird abgehalten. Pfarrer Friedrich-Wilhelm Ritter aus Hannover sagt: „Ich wuchs in Bärwalde, dem heutigen Mieszkowice, auf. Hören wir uns den Psalm an, um diesen Gottesdienst gemeinsam zu erleben.“
Er liest vor: „Ihr Völker alle, klatscht in die Hände ... denn der Herr ... ist ein König über die ganze Erde ..., er wählt unser Erbland für uns aus ... Gott wurde König über alle Völker ...“
„Der Herrgott führte uns polnische Katholiken und deutsche Protestanten hierher, jeden von uns mit seiner eigenen Geschichte. Zeige uns, Gott, wie wir uns von deinem Wort leiten lassen sollen. Gib uns Kraft ...“, sagt der Czeliner Pfarrer, Ignacy Stawarz.
Der Geist einer guten Zukunft
Die Polen singen das Te Deum, aber die weniger bekannte Fassung, das sogenannte schlesische Te Deum: „Ciebie Boże chwalimy, Ciebie Stwórcę Wszechmocnego …”. Dann ertönt das Te Deum auf Deutsch: „Großer Gott, wir loben Dich …”. Weswegen wird das schlesische Te Deum im westpommerschen Czelin gesungen, das früher das neumärkische Zellin war? Vielleicht ist es ein Zufall, aber während dieses deutsch-polnischen Gottesdienstes klingt das Lied besonders passend. Denn der Text des deutschen Te Deum, das in Deutschland sowohl die Protestanten als auch die Katholiken singen, ist in Schlesien entstanden. Sein Verfasser war Ignaz Franz (1719-1790), ein katholischer Pfarrer, der in einer Stadt namens Frankenstein (heute Ząbkowice Śląskie) geboren wurde.
Während dieser deutsch-polnischen Feier in Czelin verbinden sich die zwei Lieder, das deutsche und das polnische. Ein Symbol? Ein Zufall? Der Alltag besteht aus Zufällen, die man doch so gerne als Symbole deuten möchte ... „Lobet den Herren, den mächtigen König …”, singen dann die Deutschen, „Möge der Herr mit uns bleiben, halleluja“, singen die Polen. „Der Heilige Geist, der Geist der Einheit und des Friedens, möge uns erfreuen, dass wir uns in einer freundlichen Atmosphäre begegnen können“, hört man auf Deutsch und auf Polnisch. „Wir bitten Dich, dass diejenigen das begreifen, die es nicht begreifen können. Wir bitten dich um den Geist einer guten Zukunft.“ Zum Abschluss: „Ojcze nasz – Vater unser” – die Worte fließen ineinander. Die beiden Pfarrer erteilen den Segen, die Besucher gehen hinaus, machen Bilder vor der Kirche, gehen zur Schule ...
Die Czeliner Kirche ist sieben Jahrhunderte alt. Sie wurde von den Templern aufgebaut, hier war einst die Kanzlei der Kathedrale von Cammin, das Erzdiakonat von Zellin. Die Geschichte sickerte in die Mauer aus Stein und Backstein. So ist es auch jetzt. Ein solches Ereignis findet in dieser Kirche zum ersten Mal statt.
Die Orte haben ihre Geschichten
Auf dem Weg zur Schule kommen alle an einer mächtigen Eiche vorbei. Sie muss hier auch am 18. Februar 1666 gestanden haben, als die 16-jährige Anna von Mörner aus Zellin und der 33-jährige Joachim von Dewiz aus der Gegend von Labes vermählt wurden. Beide stammten aus großen alten Adelsfamilien. Die Mörners waren vom 15. bis zum 17. Jahrhundert Eigentümer von Zellin und Clossow. Sie schrieben sich „von Mörner zu Zellin und Clossow“, hatten Verbindungen zum Herzogtum Pommern (worüber Theodor Fontane, der größte Chronist des Oderlandes, schrieb). Im Dienste schwedischer Könige kamen sie zu Ehren, als erster Otto von Mörner, geboren am 8. Mai 1569 in Zellin. Angeblich war er es, der König Gustav Adolf nach der Niederlage bei Kirchholm, wo Schweden durch polnische Verbände geschlagen wurde, zu trösten suchte. Sein Enkel, Hans Mörner, nahm an dem schwedischen Angriff auf Polen teil, kämpfte bei Krakau und Warschau. Und sein Urenkel gelangte während des Zweiten Nordischen Krieges (1702) nach Pińczów und Warschau. Damals bemühte sich König Karl XII., den polnischen Thron für Stanisław Leszczyński zu sichern. Schließlich fand Leszczyński, der 1711 aus Polen floh, Schutz im damals schwedischen Stettin.
Menschliche Schicksale durchzogen die Geschichte, berührten die Orte, erschufen und ergänzten deren Geschichten. 1717 besuchte der preußische König Friedrich Wilhelm I. Zellin, denn auf sein Geheiß wurden die Deiche gegen das Oderhochwasser gebaut. Fast 100 Jahre später zogen der 21-jährige Hermann Meissner und der 26-jährige Johann Spreuberg, ein Ehemann und ein Vater von hier in den Krieg gegen Napoleon. Beide fielen am 6. September 1813 in der Schlacht bei Dennewitz, in der 32.000 französische und preußische Soldaten ihr Leben lassen mussten. 1857 wurde in Zellin Paul Wiegand geboren, ein Schriftsteller und Theologe, Prediger der New Yorker Baptistenkirche.
Menschen aus Zellin wanderten nach Übersee aus, zogen in die Kriege, zum Schluss in den schrecklichsten, der am 1. September 1939 von Deutschland ausging und die deutsch-polnischen Beziehungen radikal veränderte, auch das Schicksal des Oderlandes und das von Zellin/Czelin.
Erst 62 Jahre nach Kriegsende kam es in Czelin zu einem deutsch-polnischen ökumenischen Gottesdienst, einem gemeinsamen Mittagessen in der Czeliner Schule und einem Nachmittag der Geschichten.
Die Menschen haben ihre Geschichten
Die Einwohner von Zellin und Czelin, die ehemaligen und die heutigen, trafen sich Mitte Mai, um zu erzählen. Sie folgten der Idee von Ewa Czerwiakowski und Ruth Henning aus Berlin, sowie von Elvira Profé-Mackiewicz und ihrem Mann Fortunat Mackiewicz.
Die Mackiewiczs hatten sich 1946 in Mieszkowice kennen gelernt: sie, eine Deutsche aus Bärwalde, die gerade von der Verschleppung nach Sibirien zurückgekehrt war, er, ein Pole aus Wilna. Sie waren verliebt, die Behörden erteilten aber keine Genehmigung zur Schließung einer deutsch-polnische Ehe. Nach dem Krieg gab es für derartige Ehen keine „gesellschaftliche Zustimmung“. Sie musste über die Oder, er ging nach Ermland.
Aber die Liebe überdauerte. Die beiden fanden sich nach mehr als vierzig Jahren, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder. Sie leben zusammen, haben sich in Mieszkowice ein Haus gebaut und wissen sehr wohl, wie einfach die Menschen zueinander finden, wenn es keine trennende Ideologie und Politik gibt, wenn sie die gegenseitigen Schicksale kennen lernen ...
Und die Geschichten beginnen. Zunächst überreicht Helga Zantow Frau Atroszko einen Strauß dunkelroter Pfingstrosen. „Meine Mutter nahm sie 1945 aus ihrem Garten in Zellin mit und pflanzte sie in ihrem neuen Garten in Eberswalde wieder ein. Bis heute bringen sie Blüten hervor. Das sind Pfingstrosen aus Zellin, die ich nach Czelin mitbringe“.
Stanisław Mirkiewicz, 82 Jahre alt, kommt aus Konin. In Czelin wohnt er seit 1947, er war hier Dorfvorsteher. „Als ich nach Czelin kam, war das Dorf zu 80 Prozent zerstört. Die Kirche war ausgebrannt. Dort, wo ich vor dem Krieg lebte, gab es auch Deutsche. Das Zusammenleben mit den Polen war dort gut. Ich verstehe nicht, warum Hitler über Polen hergefallen ist“. Dann erzählt er, dass all diejenigen, die nach dem Krieg in Czelin an der Grenze lebten, weder Tauben noch Hunde halten durften. Nichts durfte über die Grenze: weder eine Taube, noch das Bellen eines Hundes. „Jetzt ist es, wie es eben ist. Jeder hat das Recht, seine Heimat zu besuchen.“
Edeltraud Kreft berichtet, sie habe in Zellin eine schöne Kindheit gehabt, aber sie erzählt auch von den ersten polnischen Kriegsgefangenen, die im Herbst 1939 im Dorf erschienen. Sie erinnert sich an einen Polen, der Bäcker war und Fuhrmann und Henryk hieß. „Mein Haus in Zellin ist zerstört worden. Ich komme gerne hierher, aber mein Zuhause ist jetzt in Berlin.“
Der Dorfvorsteher Zbigniew Kmiecik erzählt vom Schicksal seiner Eltern und Schwiegereltern, die aus der Gegend von Wilna stammen, über den Großvater seiner Ehefrau, der im Krieg umkam, über seinen Vater, der mit der Armee in Güstebiese eintraf, über seine ganze durch den Krieg geschädigte Familie ...
Dann spricht Erika Krupki. Sie ist ebenfalls 82 Jahre alt, genau wie der ehemalige Dorfvorsteher Mirkiewicz. Ihren zwanzigsten Geburtstag konnte sie noch in Zellin feiern. Als am 2. Februar 1945 die Russen das Dorf eingenommen hatten, flüchteten alle Frauen und Mädchen in den Wald. Der Vater wurde gleich abgeholt und nach Sibirien verschleppt. Die 18-jährige Schwester verhungerte in einem Lager in Posen ...
Die Geschichten sind kurz und leise ... Ilse Karstädt sagt, Zellin sei für sie ein Paradies gewesen, aber ihre Heimat habe sie woanders. Zuvor schaute sie sich interessiert zusammen mit den Anderen den Auftritt der Schülergruppen aus Zielin (Sellin) und Czelin an. Sie applaudierte, nachdem die Kinder ihre Tänze vorgeführt und ihre Lieder vorgesungen hatten. Dachte sie vielleicht daran, dass auch diese Kinder heute hier ihr Paradies haben? Ein Lied wurde auf Deutsch gesungen und endete mit den Worten: „Wir können gute Freunde sein …”
Ein Bild zur Erinnerung
Heinz Schermer brachte einen Ortsplan von Zellin mit. Um ihn herum versammeln sich die Polen und die Deutschen, sie diskutieren, fragen nach den Häusern, wer wo gewohnt hat oder wohnt. Heinz Schermer brachte auch ein Bild der Zelliner Kirche mit, eingebrannt in einem Stück Sperrholz. Das schenkte er dem Pfarrer.
Am Ende des Treffens steht der Rentner Stanisław Dolnik auf. Er hatte ein Bild von der Kirche gemalt und wollte es der ältesten anwesenden Person schenken, die in Zellin geboren wurde. Er kommt auf Erika Krupki zu, die sichtbar verwundert und verlegen ist, und händigt ihr das Bild aus, „damit es Sie an das Heimatdorf erinnert“. Sie blickt ihn an, schaut auf das Bild, auf die Menschen, die lächeln und fotografieren ... Mit Mühe hält sie die Tränen zurück.
Und eine völlig andere Geschichte
Mateusz Karolak, geboren in Czelin, heute Student an der Universität Posen, spricht über die Geschichte seines Dorfes, über die archäologischen Ausgrabungen aus der Zeit der Goten, über spätere Funde, über menschliche Spuren, die die Geschichte erhalten hat. Auch in dieser Geschichte fließen die Schicksale der Deutschen und der Polen ineinander, die heute in der Czeliner Kirche und in der Schule zum ersten Mal zusammen kamen. „Das sollte man aufschreiben“, sagt Karolak.
Die Teilnehmer des Treffens haben ihre Geschichten erzählt – deswegen sind sie hierher gekommen. Nun verlassen sie die Schule, laden sich gegenseitig ein.
Ein Bus fährt vor, der eine Schülergruppe von einem Ausflug zurückbringt. Die Kinder laufen zu sich nach Hause an der alten Eiche, an der Kirche vorbei ... Was hätten sie von diesen Geschichten verstanden? Im nahen Gozdowice, wo am 16. April 1945 die Offensive über die Oder begann, wird bald eine Fähre über Fluss und Grenze verkehren. Sie hat schon einen Namen: „Bez Granic – Ohne Grenzen“. Ihre Geschichten sind völlig andere.
Kurier Szczeciński, 8. Juni 2007