Was ist Heimat?*

Spurensuche in der deutsch-polnischen Grenzregion

Grau war der Tag und wolkenverhangen, als ich – gedankenversunken – über die Oderbrücke aus der neuen in die alte Heimat spazierte. Die erste Heimat – so erinnerte ich mich an ein Sprichwort – sei die Mutter, die zweite Heimat dagegen nur die Stiefmutter. Ich habe das nie so empfunden. Schon immer trennte ja der Fluss die Dammvorstadt vom eigentlichen Frankfurt (Oder). Nun aber verband die Brücke das deutsche Grenzland mit dem polnischen Słubice. Und das war ja ganz im Sinne von Siegfried Lenz, der sich in seinem leider vielen einstigen Neumärkern unbekannten Roman „Heimatmuseum“ so sehr wünschte, dass wir Brücken nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Gegenwart – ja, schöner noch – in die Zukunft schlagen. Und das versprach ich mir eigentlich auch von der Konferenz, zu der ich an diesem trüben, aber deshalb noch längst nicht unfreundlichen Novembertag den kurzen Weg von Deutschland nach Polen ging. Das Thema war spannend genug. „Was ist Heimat?“ stand zur Debatte und ich erhoffte mir schon, von all den vielen klugen Leuten dort im Ergebnis ihrer zweitägigen Dispute eine Antwort auf meine ganz subjektive Frage zu finden, ob das auf den Messtischblättern ausradierte kleine Pulverkrug an der Eilang im heutigen polnischen Lebuser Land nun eigentlich einmal meine Heimat war oder möglicherweise sogar noch ist.

Angeregt hatte das spannungsreiche Projekt der Spurensuche in der deutsch-polnischen Grenzregion – dieses tiefgründige Forschen und Fragen nach der alten, neuen oder auch fremden Heimat die „Deutsch-Polnische Gesellschaft Brandenburg“ in Potsdam. Und nach übereinstimmend und anerkennender Aussage der meisten Konferenzteilnehmer hat sie das ganz hervorragend getan – sowohl was die einen lebhaften Diskurs versprechende Besetzung der Rednerliste anging, die verständnisvoll und stets themenbezogene Moderation der Debatten betraf und – last not least – zollt auch das logistische „Drum-Herum“ eines solch mehrtägigen Treffens mit in- und ausländischen Beteiligten uneingeschränkte Anerkennung.

Doch wenn es um das so gefühlsbetonte Thema Heimat – um eine so umstrittene Frage „Was ist Heimat?“ geht – dann teilt sich ein Auditorium, in dem neben den Gutachtern der Geschichte auch Angehörige der sogenannten Erlebnisgeneration oder vom Heimatverlust Betroffene sitzen – dann war immer schon leidenschaftlicher Disput zu erwarten. Und das war auch in Słubice nicht anders. Im Słubicer Collegium Polonicum waren dies vor allem die namhafte Volkskundlerin und Kulturanthropologin Prof. Dr. Ina-Maria Greverus von der Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Historiker und Leiter des Instituts für Geschichte und Biographie in Lüdenscheid, Prof. Dr. Alexander von Plato. Dabei sorgten sie weniger für Widerspruch als vielmehr für Erstaunen und auch Verwirrung über den aus wissenschaftlicher Sicht so kompliziert und vielseitig zu definierenden Begriff „Heimat“. Am Rande der zweitägigen Konferenz und in ihren Pausendebatten jedoch war sich die Überzahl der Teilnehmer darin einig – wobei übrigens niemand einen militanten Heimatanspruch erhob – Heimat ist dort, wo ich meine familiären Wurzeln habe und Heimat ist meine Familie überhaupt!

Natürlich ist das keine wissenschaftliche Heimatdefinition. Aber auch die Wissenschaft – die Anthropologen und die Historiker – sie werden es – wenn nicht respektieren so aber doch zumindest registrieren. Und schmerzlich wird eine derartig beidseitige Toleranz sicher weder für die Gutachter noch die Begutachteten in Sachen Heimat oder Heimatverlust.

Wäre ich nun Philosoph, Völkerkundler, ein Ernst Bloch- oder Sören Kierkegaard-Jünger, oder wäre ich gar selbst wissenschaftlicher Kundschafter auf dem so vielschichtigen Gebiet der menschlichen Verhaltensweisen – ganz sicher fände ich dann auch eine hieb- und stichfeste Definition dafür, warum der heimatverlustige Deutsche kaum – der polnische Heimatverlustige jedoch ausschließlich über das neue Zuhause spricht. Vielleicht liegt es daran, dass dem einen die neue Bleibe eben doch kein echter Heimatersatz ist. Eine ganz wesentliche Ursache jedoch ist wohl darin begründet, dass den vertriebenen Polen das alte Daheim noch immer für eine Spurensuche verschlossen bleibt.

Bei den – leider nur in Vertretung zur Vorlesung gebrachten Gedanken der Posener Professorin Anna Wolff-Powęska aber dachte ich unentwegt an das Heimatmuseum von Siegfried Lenz. Schon die Kernfrage ihres Vortrages „Sieg des Vaterlandes über die Heimat?“ rief mir die Worte eines der Haupthelden des Romans ins Gedächtnis: „Also Weltkunde statt Heimatkunde – Weltkunde, meinen Sie, und uns allen wäre geholfen. Ich weiß nicht“ – so lässt Lenz seinen Martin Witt am Krankenbett des Haupthelden – des Teppichwirkers Zygmunt Rogalla – zweifeln – „wie viel Ihnen Erfahrung bedeutet, aber ich hab’ so manchen erlebt, der seine Hoffnungen auf Weltkunde setzte, und der dann wie von selbst zur Heimatkunde zurückfand. Vielleicht müssen wir darauf gefasst sein, dass Weltkunde immer nur Heimatkunde ist...“

Die Posener Professorin Anna Wolff-Powęska – sie kommt den Nachdenklichkeiten der Hauptfiguren des Lenz-Romans doch recht nahe mit ihren Überlegungen: „Auf die brennenden politischen Probleme der Gegenwart sucht man nun eine Antwort in der Vergangenheit... Für Polen ist der nationale Stolz und der neue Patriotismus ein wichtiges Element des Gleichgewichts geworden. Und es kehren alte Zweifel zurück, ob die Geschichte Lehrerin des Lebens ist, ob sie Schutzschild ist, ob sie eine Kompensationsrolle oder eine kathartische Rolle zu erfüllen hat – ja – prosperiert die Geschichte oder ist sie nur Ausdruck von Eskapismus oder Nostalgie? ... Wir haben es auch mit neuen Formen der Medien zu tun, die uns ein Bild der Vergangenheit vermitteln. Das bietet uns aber nicht nur weite Möglichkeiten des Gedankenaustausches. Es bringt auch Anspannung und ein gewisses Gefühl der Furcht mit sich. Gewaltige Veränderungen im Globalisierungszeitalter bringen auch Angst über die Vergangenheit mit sich und das korrespondiert mit dem Gefühl, Vergangenheit verloren zu haben.“

Vor der eigenen Geschichte könne wohl niemand ein reines Gewissen haben, meint Teppichwirker Zygmunt Rogalla bei Siegfried Lenz und die Vergangenheit – sie gehöre uns allen, man könne sie nicht aufteilen und sich zurecht schleifen. Und auch dass es für keinen von uns eine „vergangene Welt, vergessen und tot, keine abgebuchte Zeit, so einfach nur heruntergepflückt vom Abreißkalender der Geschichte gibt“ – das bewiesen die interessanten und von persönlichem Erleben und Engagement durchsetzten Redebeiträge der sogenannten Regionalvertreter im Słubicer Collegium Polonicum.

Tatsächlich erweisen sich die neuen und die alten Bewohner der einstigen Neumark als findige und fündige Spurensucher im Streben nach einverständlichem Nebeneinander in der deutsch-polnischen Grenzregion. Für die Landsbergerin Christa Greuling ist Gorzów noch immer ihre Heimatstadt und sie tut alles in ihren Kräften und Möglichkeiten stehende, um vor allem den jungen polnischen Bewohnern der alten Warthestadt ihre noch junge Heimat erschließen und sie noch schöner gestalten zu helfen. Der bekannte Pauckschbrunnen und eine Friedensglocke in unmittelbarer Nachbarschaft im Zentrum am Wartheufer sind dafür die sicht- und hörbarsten Beweise.

Aufmerksame Zuhörer fand auch die Spurensuche der Weststernberger. Zielen doch die ständigen Rubriken HEIMATBRIEF-Interview und Berühmte „Ost-Brandenburger“ – die Vorstellung jener polnischen Persönlichkeiten, die gegenwärtig die Geschicke des polnischen Lebuser Landes lenken und die Lebensbilder jener, die es in deutscher Vergangenheit taten darauf ab, den Heimatbegriff in Raum und Zeit gegenständlicher und damit verständlicher darzustellen. Ein Anliegen übrigens, dem sich auch Andrzej Kotula aus Nowe Warpno (Neuwarp) vom Stettiner Haff und Robert Ryss aus Chojna – dem neumärkischen Königsberg in unmittelbarer Grenznähe zu Schwedt an der Oder – verstärkt zuwenden. „Kann denn eine Grenze überhaupt etwas Attraktives sein? Ist sie nicht immer das Ende von ‘mein’ und ‘unser’?“, fragte der Redakteur aus Chojna in das Auditorium und ließ es nicht im unklaren darüber, dass menschliches Wollen und politischer Wille eigentlich jede Barriere überwinden können. „Berlin und Warschau sind weit“, hatte mir unlängst in Sonnenburg / Słońsk ein polnischer Interviewpartner gesagt und vielsagend hinzugefügt: „Entscheidend ist, was wir Polen und Deutsche hier unten auf unserer Ebene der Zusammenarbeit tun.“ Robert Ryss bestätigte in Słubice, dass sich unser gemeinsamer Himmel nicht teilen lässt und eine geteilte Heimat nicht trennen muss.

Und als ich dann zurückging über die Brücke aus der alten in die neue Heimat – da fühlte ich mich nach all diesen Debatten über Globalisierung und Heimat in einem gemeinsamen Europa plötzlich ein wenig heimatlos im Gestrüpp all der Heimat-Theorien. Und ich dachte so bei mir an das vom Philosophen Ernst Bloch beschworene „Prinzip Hoffnung“ und seine Vermutung, das Heimat wohl das sei, wo eigentlich noch niemand war...

*Bericht über die Konferenz „Was ist Heimat?“, in: Heimatbrief, Herausgegeben vom Heimatkreis Weststernberg e.V., März 2007, Nr. 60.